Fall des Monats

Mehr als 1.000 Anfälle … | 2-2016

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… hat eine 38-jährige Patientin in den letzten 20 Jahren erlitten, ohne zu wissen, dass es sich hierbei um epileptische Anfälle gehandelt hat.

Seit ihrem 17. Lebensjahr traten stereotype Episoden auf, die mit einem Vertrautheitsgefühl begannen und sich dann in Richtung einer als kurz und leicht empfundenen Abwesenheit entwickelten. Die Patientin selbst hat diesen etwa wöchentlich auftretenden Episoden keine allzu große Bedeutung beigemessen, diese hatten für sie keinen Krankheitswert. Auch Freunde und Bekannte der Patientin sahen in diesen Episoden kein relevantes medizinisches Problem. Wegen einer komorbiden depressiven Störung hat die Patientin vor 3 Jahren eine Psychotherapie begonnen. Die Patientin hatte ihrer Psychotherapeutin von diesen „komischen“ Episoden berichtet. Letztere hatte diese allerdings dissoziativen (= psychogenen nicht-epileptischen) Anfälle zugeordnet.

Letztlich suchte die Patientin wegen Spannungskopfschmerzen einen Neurologen auf, dieser hat die Patientin wegen dieser Episoden dann unter dem Verdacht auf epileptische Anfälle in unserem Epilepsie-Zentrum zur weiteren Diagnostik und Therapie vorgestellt. Allein auf der Basis der guten Beschreibung durch die Patientin konnten wir die Diagnose einer fokalen Epilepsie mit déja vu-Auren und automotorischen (= komplex-fokalen) Anfällen stellen. Ein Kopf-MRT ergab einen unauffälligen Befund, somit wurde durch uns die Diagnose einer kryptogenen Epilepsie gestellt.

Wir begannen eine antiepileptische Therapie mit Lamotrigin, diese Substanz ist zusammen mit Levetiracetam in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie als Mittel der Wahl bei fokalen Epilepsien empfohlen. Auf Grund der depressiven Symptomatik haben wir uns gegen Levetiracetam entschieden. Mit Erreichen der Zieldosis von 150 mg täglich traten bei der Patientin keine epileptischen Anfälle mehr auf.

Dieser Fallbericht ist aus zwei Gründen von besonderem Interesse. Erstens sollten kurz dauernde paroxysmale Ereignisse mit einer Änderung der Wahrnehmung und/oder einer Abwesenheit einem – idealerweise auf Epilepsie spezialisierten – Neurologen mit der Frage nach epileptischen Anfällen vorgestellt werden. Zweitens sprechen Epilepsien nach vielen – auch wie im vorliegenden Fall über 1.000 – epileptischen Anfällen genauso gut auf eine erstmalige antiepileptische Therapie an wie solche nach 1 oder 2 Anfällen. Diese Beobachtung konnte auch im Rahmen von systematischen Studien an Menschen mit langjähriger unbehandelter Epilepsie in den Anden-Staaten gemacht werden. Wiederholte epileptische Anfälle scheinen also das Gehirn nicht „epileptischer“ zu machen, wie früher vielfach angenommen worden war.

Fälle der vergangenen Monate